Evolutionieren
- lost letter

- 2. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Wir alle werden in der Manege des Alltags dompteuriert. Dompteuriert – das Wort gibt es seit heute.
Auf dem Weg zur Arbeit fahre ich entlang einer gut ausgebauten, recht breiten, aber kurvigen Landstraße. Erstmal bergauf. Drei bis vier Kilometer, Geschwindigkeitslimit erst 70, dann 100 nach der nächsten Kurve. Auftritt: LKW. Jeden Tag. Irgendein LKW. Er quält sich mit 40-50 km/h den Berg hoch.
Hat bestimmt jeder schon mal erlebt. Aber nicht so, wie ich.
Ich möchte schneller.
Ich könnte schneller.
Ich dürfte sogar. Dann passiert eine Art Magie, die ich selbst nicht mal verstehe. Selbst wenn ich wollte, könnte ich den Trick nicht leaken.
Es kribbelt, als sich die rationale linke Hirnhälfte nach vorne kämpft und mich missbilligend heimleuchtet: „Willst du ‘nen vollen Kühlschrank oder was?!“
Es soll wie eine Frage klingen. Klingt aber eher nach Vorwurf und Schuldgefühlen.
Oder WAS?!!!?, äffe ich nach. Ich habe genug Zeit für meinen inneren Dialog bei der Bummelei. Voll mit Bananen, die in Spanien sortiert und gereinigt werden, in Rumänien abgepackt, um dann bei mir im Edeka zu liegen. Sick.
„Der LKW muss halt hier lang und der Fahrer kann doch nix dafür, dass seine Maschine nicht schneller kann.“
Jaund? (Noch ein neues Wort. Nein, ein Laut. Ein vokalisiertes Schulterzucken!)
Verständnis ist sowas von überflüssig. Was bringt das schon? Ist es die natürliche, körpereigene Tavor-Produktion, um sich zusammenzureißen? Dann habe ich ‘ne fette Toleranz. Sick! Wut baut sich auf. Ich weiß, überflüssig. Bringt nix. Jaund?
In der Schlange vor der Kasse. Der Hintermann hält die 8 cm Abstand gerade so ein. Hat’s vielleicht eilig. Ist vielleicht kontaktfreudig und nicht so ein Zufall-Berührungsangst-Zucker wie ich. Hat sicher eine geringe Komfortzone. Jaund? Klick-klick.
Aufschlag Arbeit.
Akklimatisieren. Draußen ist es kalt. Drinnen auch, aber immerhin gibt es Kaffee.
Hoffentlich ist noch niemand da.
Ich brauche Ruhe. Stille. Keine Gespräche.
Das wissen die Kollegen auch – jedenfalls die Guten. Dann gibt es da noch alle anderen. Vormund der ganzen Entscheidungsverweigerer-Delegation: Mein Kollege, eine tägliche Geduldsprobe mit einem Nasenloch, das unaufhörlich fiept. Eigentlich ein Netter, wenn man ultratolerant ist und im Homeoffice arbeitet.
So what: So wenig Menschenkontakt wie möglich.
Doppel „so what“: nicht morgens, nicht vor dem ersten Kaffee und Tasche abstellen.
Ernsthaft: BIDA (Bin Ich Das Arschloch), dass mich das Folgende gleich ankotzen wird?
„Hey du, Herr [Komparse A] hat gestern noch angerufen und hat auf Herrn [Komparse B] geantwortet.“
Ich, würdevoll: „Lass gleich darüber reden, erst meinen Kaffee, ok?“ Dann PENG, wie aus der Pistole geschossen, als hätte der kleine Racker es geahnt: „Ja klar, ich wollte dich ja nur informieren, dass …“
– Einen Scheiß willst du. Du willst nur den Informationsscheißhaufen abgeben, um weiter am Handy rumzupimmeln. (Gedanken)
Tatsächlich bin ich wortlos aus dem Raum gegangen.
KLICK-KLICK.
2 Trillionen Anrufe und Nasenlochpfiffe später. Szenenwechsel: Mittagspause.
Social-Media-Spruchbilderkette:
~ Scheiß auf andere ~
~ Sei individuell ~
~ Schwimm gegen den Strom ~
Lara, 15 Jahre.
Optisch kaum von ihren Followern zu unterscheiden. Swipe.
Insta oder YT-Videos von irgendwelchen Nixkönner-Finfluencern im Sektenchor: „Komm in die Gruppe“. Ich kann mir nicht helfen, ich hör nur: Einer von uns … Einer von uns …
Habibi! Wärst du so gut, wie du es in deinen Videos mit der geliehen Breitling und der geliehenen Choo-Sonnenbrille behauptest, müsstest du den Scheiß hier … So what, Drecks-Ponzi-Opfer. Swipe.
Andere Reels selber Tonus, ich höre nur noch: „G-enau“, „TatSÄchLich“, „… sozusagen, also quasi …“ oder „Ich liebz …“
KLICK-KLICK-BO-
Nein. Swipe. Es wird nie zum BOOM kommen.
Ich bin zu gut erzogen. Älter geworden. Gereift. Über-reif? Gespannt. Überspannt. Dünnhäutig. Mein Menschenkostüm ist gefühlsecht. Vielleicht liegt es daran. Ich nehme die kleinste Irritation wahr, bin sensibilisiert, durchgescheuert an bestimmten Stellen. Fairerweise muss man dazu auch sagen, dass ich die Fehler anderer bereits … Und da ist es ja wieder: Das Verständnis.
Hmmm, wie schön das kribbelt. Ja, ein wenig wirkt es. Morgen ist Homeoffice. HoooomeOffice … wie schön das klingt.
Kein LKW.
Kein Nackenhauch an der Kasse.
Keine Kollegen … naja, fast – den Telefonhörer abnehmen oder nicht, steht jedenfalls wieder zur Wahl. Jetzt müssen sich ihre Störungen an mich anpassen. Ha! Wer hat jetzt die Anpassungsstörung?
Fehldiagnose.
Niemand, der mich dompteuriert. Im Gegenteil: Ich habe evolutioniert!

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